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Nachgefragt bei: Kathrin Lange

Ich bin nicht systemrelevant – Ein naturgemäß unmaßgebliches Statement einer Jugendbuchautorin

Neben dem einen Wort, ohne das momentan keine TV-Sendung, kein Zeitungsartikel, kein persönliches Gespräch auskommt – Corona – ist es ein anderes, das mir in diesen Tagen ständig begegnet.
Systemrelevanz.
Lassen wir einmal die Tatsache außen vor, dass unsere Gesellschaft offenbar nicht einmal bereit ist, selbst diejenigen entsprechend zu entlohnen, die sie als systemrelevant ansieht, und werfen wir einen Blick auf das Thema, und zwar gezielt aus dem Blickwinkel einer Jugendbuchautorin.
Gestern Morgen las ich in meiner Tageszeitung einen Bericht über die dritte Demonstration gegen die Corona-Beschränkungen, die in Hildesheim stattfand. Ein Satz aus diesem Bericht hat mich besonders betroffen gemacht: Die Menschen, die dort demonstrieren, halten ihre Freiheit und die Unantastbarkeit ihrer Würde für gefährdet.
Ich finde die Reihenfolge bemerkenswert.
Die Freiheit steht an erster Stelle, und das wirft in mir die Frage auf, ob Demonstrationen wie diese nicht einfach nur eine andere Art sind, das zu sagen, was ein gewisser Tübinger Grünen-Oberbürgermeister zugespitzter formuliert hat. Manche Menschen scheinen mir mittlerweile an einem Punkt angekommen zu sein, an dem ihre Individualisierung so weit fortgeschritten ist, dass ihr emotionaler Horizont ungefähr auf die Entfernung ihrer eigenen Nasenspitze zusammenschnurrt.
Vielleicht ist es aber ja auch so, denkt sich die auf jene stets hinter einem Handeln steckenden Motive konditionierte Autorin in mir: Wenn man tagtäglich mit Kategorisierungen von „nützlich“ und „unnütz“ konfrontiert wird, bleibt einem irgendwann nichts anderes mehr übrig, als sich zuerst um sich selbst zu sorgen und immer lauter „Meine Freiheit wird mir weggenommen!“ zu brüllen, um überhaupt noch gehört zu werden. Und dann geht dann eben auch ein berechtigtes „Da läuft in meinen Augen etwas schief!“ oder ein „Ich mache mir Sorgen!“ schnell im Ich-zuerst-Gekeife unter.

Perspektivwechsel.

Wenn ich in eine Schule fahre, um dort aus einem meiner Bücher zu lesen, sitze ich immer häufiger vor jungen Menschen, die sich überfordert fühlen, wenn ich von einer Szene zur anderen und damit in die Innenperspektive einer anderen Figur wechsele. Und leider muss ich hinzufügen: Das schließt mittlerweile ab und zu auch die anwesenden jungen Lehrer*innen mit ein.
Beides zusammengenommen, könnte ich jetzt die übliche Litanei anstimmen: dass Literatur zu Empathie anleitet, dass es wichtig ist, die Kinder und Jugendlichen zum Lesen zu bringen, damit sie die Welt in ihrer Komplexität verstehen lernen, Zusammenhänge durchdringen können, statt sich bei ein paar schnellen Klicks durch das Internet ihre Weltsicht zusammenzuzimmern. Ich könnte darauf hinweisen, dass der Konsum von Literatur zu Ambiguitätstoleranz, zur Fähigkeit, Widersprüche und auch Vielfalt auszuhalten, verhelfen kann. Weil Literatur eben aus verschiedenen Perspektiven auf die Gesellschaft schaut und auch Grautöne ausleuchtet, statt nur schlaglichtartiges Schwarz-Weiß.
All das ist richtig und bereits tausendmal und mehr geschrieben worden. Ebenso wie all die völlig berechtigten Hinweise darauf, dass in der aktuellen dramatischen Lage Förderungen nicht greifen, Gelder zu knapp bemessen und die Verteilungsverfahren ungerecht sind und vor allem zu bürokratisch. Mein Beitrag – fiele er denn in diese Klagen ein – wäre nichts anderes als noch ein weiterer Aufschrei: Seht her! Ich bin Autorin. Ich bin auch systemrelevant!
Es wäre ein Einhalten der Regeln in einem Spiel, das verlogen ist, weil es nicht einmal die, die es für systemrelevant hält, vernünftig entlohnt.
Nein, nach den derzeit geltenden Kriterien bin ich nicht systemrelevant, und das Ganze ist fast schon paradox. Denn ich darf trotzdem weiter meine Arbeit tun. Ich muss nicht in Kurzarbeit. Okay, das mit der Bezahlung … lassen wir das.
Wenn es eines gibt, das nach der Pandemie nicht mehr so sein sollte wie vorher, ist es die Tatsache, dass wir Menschen kühl in „für die Gesellschaft nützlich“ und „unnütz“ kategorisieren. Aber wenn wir das durch Corona vielleicht endlich kapiert haben, dann reicht es nicht, „Systemrelevanz“ zum Unwort des Jahres 2020 zu küren. Was wir dann brauchen, ist ein neuer Blick darauf, dass jemand, der Bücher schreibt (wahlweise zu ersetzen durch: Menschen pflegt, an der Supermarktkasse sitzt, Toiletten putzt, Kinder erzieht …) exakt denselben Wert besitzt, wie jemand, der Autos zusammenschraubt oder gar mit Aktien handelt. Und wir brauchen eine Politik, die nicht auf Kosten nennenswerter und zur Zeit auf geradezu bigotte Weise gelobter und beklatschter Teile der Bevölkerung um jeden Preis den Status Quo erhalten will, sondern die Pandemie als Chance sieht, den Wert von Arbeit nach anderen Parametern als bisher zu definieren.
Modelle dazu existieren.

 

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