Nichts ist so beständig wie der Wandel
Dr. Andreas Grünewald Steiger geht am 31. Januar 2024 nach 33 Jahren als Programmleiter Museum der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel in den Ruhestand.
In einem Interview, das Pressesprecherin Ulrike Schelling mit ihm geführt hat, erzählt er in Rückblicken über ein magisches Buch, das ihn überhaupt dahin gebracht hat, wo er jetzt ist; über kreatives Chaos in der Nähe und beeindruckende Erfahrungen in weiter Entfernung; über einen Circus auf dem Schlossplatz in Wolfenbüttel und geheime Schätze im Morgenland; über den schönsten Arbeitsplatz der Welt und wagt am Ende einen Ausblick auf die Zukunft der Museen.
ba•: Lieber Herr Grünewald Steiger: Können Sie sich an Ihre ersten Arbeitstage an der Akademie erinnern?
Andreas Grünewald: Ja, natürlich. Im Februar 1991 kam ich als ziemlich junger diplomierter Kulturpädagoge nach Wolfenbüttel. Hier, so schien mir damals ein erster Eindruck, herrschte kreatives Chaos, das aber in einem sehr positiven Sinne. Die Akademie befand sich im Aufbau und der damalige Direktor war nicht nur für die inhaltliche Ausrichtung, sondern auch für die bauliche und räumliche Organisation verantwortlich. Letzteres natürlich schon eine Herkulesaufgabe mit wenig Platz für die Konzentration auf Inhalte. Wir fünf Programmleiter_innen (der sechste Programmbereich – Kulturmanagement - kam erst später dazu) hatten daher viel offenen und unerforschten Raum für Experimente und Entwicklungen in viele Richtungen. Wir fühlten uns als eine Art »Spezialtruppe für strukturanarchischen Kulturkonstruktivismus« mit der Mission, die erste interdisziplinäre Bundesakademie für kulturelle Bildung Deutschlands mit einem unverwechselbaren inhaltlichen Profil auszustatten. Es gab keine Vorbilder für eine solche Konstellation, auch kein Schema - was ich schon von der Uni her sehr gut kannte. Im Studium waren wir 1979 die ersten Studierenden unseres Studiengangs – einem Pilotprojekt ohne Sicherheit einer Fortsetzung nach dem Vordiplom - und hatten daher reichlich Platz für allerhand Versuche der kreativen Art. Natürlich waren wir außerdem durch die Zeit geprägt: »Die Kunst ist frei!«, im gewissen Sinne so, wie auch wir uns verstanden und gefühlt haben. Was uns aber alle an der Hildesheimer Idee fasziniert und überzeugt hatte, war der Gedanke der Bauhaus-Pädagogik, die dem Studium und dessen Inhalten zugrunde lag und die wirklich alle Vorlesungen und Seminare durchzog. Tenor: Ein Studium der Theorie der Künste ist möglich, aber ohne den unmittelbaren Bezug zur Lebenswirklichkeit sinnlos. Das passte doch kongenial zur Bundesakademie.
Im April 1991, zwei Monate nach meinem Berufsstart an der ba, sind wir aus improvisierten Büros in die Räumlichkeiten im Schloss Wolfenbüttel und in Schünemanns Mühle gezogen. Das waren wundervolle Orte und sie boten großartige Möglichkeiten (bis heute), von denen wir von Anfang an vollständig begeistert waren. Das erste inhaltliche Programm in meinem Antrittsjahr habe ich dann mit neun Seminaren, Workshops und einer Tagung zur Ausbildung in der Museumspädagogik geplant und umgesetzt.
ba•: Waren Sie schon immer ein Mensch des kreativen Chaos?
Andreas Grünewald: Ein Museum ist ja eher das Gegenteil von Chaos, soll es doch ein Ort der Systematisierung von Welt sein. Ich wusste schon recht früh, dass ich »etwas mit Museum« zu tun haben wollte. Der Grund dafür war Heinrich Schliemann. Per Zufall stieß ich bei meinem Großvater – ich war damals so etwa 12 Jahren alt - auf ein Buch über Schliemann und seiner Entdeckung von Troja, die bekanntlich alles andere als wissenschaftlich exakt ablief und eher chaotisch in vieler Hinsicht war. Das war eine Art Erweckungserlebnis. Ich wollte genau solche Abenteuer erleben und Schätze finden, diese Dinge dann ausstellen und aufregenden Geschichten darüber erzählen, das war meine Vorstellung meiner Zukunft (nämlich ein früher Indiana Jones zu werden). Und so habe ich das als Knabe dann auch direkt umgesetzt und in den umliegenden Waldgebieten meiner Großeltern »Ausgrabungen« vorgenommen. Bis uns eines Tages der Förster einen Besuch abstattete und sich »einen solchen Unfug in seinem Forst« deutlichst verbat. Meine Schulkarriere verlief dann in der Tat eher etwas schräger und kurviger, aber die Vorstellung, es später einmal mit »Kunst und alten Dingen« zu tun zu haben, hat mich von dem Zeitpunkt an nie verlassen. Nach dem Abitur war dann der Sprung an die Hochschule Hildesheim mit ihrem Projekt »Kulturpädagogik«, hier mit den Möglichkeiten, Museumswesen und Museumspädagogik als einen meiner Schwerpunkte zu wählen (neben Literatur, Kunst, Pädagogik und Psychologie), eine unausweichliche und nie bereute Entscheidung.
ba•: Nach dem Studium und einigen Jahren in der Museumspraxis führte Sie dann Ihr Weg zur ba•. An welche Projekte dort können Sie sich besonders erinnern?
Andreas Grünewald: Da gibt es sehr viele, sehr schöne und immer noch sehr bereicherndere Erinnerungen. Um einige besondere Vorhaben herauszugreifen: Gleich zu Anfang meiner Zeit gab es das Projekt »Verdun«, das die Programmleiter_innen interdisziplinär angelegt hatten und in das ich dann auch sofort mit Dienstbeginn an der Akademie und in Form einer Exkursion nach Frankreich einbezogen wurde. Abgesehen von den schwierigen Inhalten -oder gerade deshalb - für mich eine ausgesprochen prägende Erfahrung für die Potenziale überfachlicher Zusammenarbeit in der Akademie.
1994 haben wir, ebenfalls im Rahmen einer programmübergreifenden Gemeinschaft der Fachbereiche Literatur, Bildender Kunst und Museum, zehn Tage mit einer Gruppe von Teilnehmenden in New York gearbeitet. Es ging um das Thema »Migration« und beschäftigte sich mit der Frage, unter welchen Umständen Auswander_innen sich während des 20. Jahrhunderts in die neue und andere Kultur einfügten, einfügen konnten. Finanziert wurde dieses Projekt von der Stiftung Niedersachsen.
Im Jahr 2000 konnten wir in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesarchiv in Wolfenbüttel und im Rahmen der EXPO 2000 eine Ausstellung mit dem Titel »Brücken in die neue Welt« eröffnen, auch hier war das Thema Migration.
Ganz anders, aber ebenso großartig war unser Zirkusprojekt im Jahr 2002. Dort entstand auf dem Schlossplatz ein echter und wirklichen Zirkus mit 400 Plätzen, mit Manege, Akrobatik, Seilartistik, Zauberkunst, natürlich Circus-Musik und auch Circus-Poesie, mit wilden Tieren (Tauben, Ziegen, einem Pony usw. ...) und allem, was einen Circus eben so ausmacht. »Cultur-Choque-Circus« haben wir unser Projekt genannt, alle fünf Programmbereiche haben den Workshop ausgeschrieben und in sechs Tagen gemeinsam mit der Circus-Familie Sperlich ein anderthalbstündiges Programm auf die Beine gestellt. Vom 23. August bis zum 1. September2002 haben wir mit der Circus-Familie, den Teilnehmenden und mit den eingeladenen Dozent*innen am Programm gearbeitet. Am letzten Tag gab es drei öffentliche Vorstellungen, die alle bis auf den letzten Platz ausverkauft waren.
ba•: Gab es besondere Kooperationen?
Andreas Grünewald: Ja, wir waren zum Beispiel international häufig unterwegs.
Die Schweiz, Österreich, Belgien, die Niederlande, England, Polen, all diese Länder waren (und sind bis heute) Teil unserer Netzwerkarbeit. Sehr besondere Kooperationen waren diese: Zwischen 2005 – 2008 finanzierte die Deutsche Management Akademie Celle eine Qualifizierung für Nachwuchsführungspersonal aus russischen Museen, die wir konzipiert und auch durchgeführt haben. Wir haben in dieser Zeit russische Nachwuchswissenschaftler_innen hier in Wolfenbüttel fortgebildet, waren aber auch selbst häufiger in Russland, um die Kooperation mit den dortigen Kolleg_innen der Lomonosov-Universtität in Moskau abzustimmen weiterzuentwickeln. Eine sehr spannende Erfahrung über insgesamt drei Jahre.
2006 bekam ich eine Anfrage aus Teheran, dort vom Museumsdirektor des iranischen Nationalmuseums, ob wir eine ähnliche Qualifizierung auch für iranische Kurator_innen entwickeln und durchführen könnten. Zehn Kolleg_innen aus verschiedenen iranischen Museen kamen dann und zu diesem Zweck für drei Monate nach Wolfenbüttel und durchliefen eine ähnliche Reihe an Seminaren, Workshops und Praktika an deutschen Museen, wie wir sie schon für die russischen Kolleg_innen durchgeführt hatten. Anschließend erhielten wir vom Direktor des Museums in Teheran eine Einladung in den Iran. Was wir dort erfuhren, war eine großartige Gastfreundschaft, zugewandte Offenheit, echtes Interesse an gemeinsamer Entwicklung im Kulturbereich und eine beeindruckende Kollegialität.
Besonders in Erinnerung bleibt mir ein Erlebnis, bei dem wir zu einem eher entlegenen Ort in Teheran gefahren wurden. Wir stiegen dort aus, hinter uns schloss sich ein bewachtes Stahltor und wir standen in einem recht düsteren Hinterhof. Zunächst ein etwas unheimlicher Eindruck in einem Land, das auch zur damaligen Zeit als nicht sehr freundlich dem Westen und seinen Werten gegenüber galt. Aber natürlich waren alle Befürchtungen völlig unbegründet: Esöffnete sich eine Seitentür und unser Gastgeber, der Leiter des Nationalmuseums, begrüßte uns überaus freudig und auch etwas aufgeregt. Nach einem gemeinsamen Essen führte er uns in einem Raum mit (wie es zunächst aussah) angesammelten Kitsch: Ausladende Brokatsessel, quietschig bunte Portraitmalereien, knallfarbige Teppiche, ausgestopfte Tiere, Wandbehänge wie aus dem Flughafenshop dominierten den Eindruck. Hinter der nächsten Tür aber eröffneten sich eine Wunderkammern mit Gegenständen und Objekten aus allen denkbaren Kulturepochen der Menschheit: Von archäologischen Artefakten und Fundstücken, über historische Urkunden, Manuskripte und Bücher, von Geschirr und Porzellan vom 18. bis ins 20. Jahrhundert mitsamt passenden Tisch-und Kronleuchtern, von Perserteppichen aus dem 16. Jahrhundert und historischen Hieb-, Stich- und Schusswaffen aller zeitlichen Provenienzen, von europäischer Graphik und Malerei höchster Qualität und Güte bis hin zu Plastiken der Renaissance bis zur klassischen Moderne… All das waren auf mehreren Etagen und auf hunderten von Quadratmetern untergebracht die »Schätze« des Schahs Reza Pahlavi, die er bei seiner Flucht 1979 aus Persien in seinen diversen Residenzen zurückgelassen hatte, die dann von der nachfolgenden Islamischen Republik Iran konfisziert und an diesem, öffentlich nicht zugänglichem Ort archiviert und konserviert wurden. Bisher hatte kaum jemand aus dem westlichen Ausland Einblick in diese „Schatzkammer“ und eine Veröffentlichung dieser Sammlung steht unter den gegenwärtigen Umständen auch in Zukunft sicher nicht an. Wir waren tief beeindruckt, nicht nur von den gesehen Dingen, sondern auch von dem großen Vertrauen, das uns auf diese Weise von den iranische Kolleg_innen entgegengebracht wurde.
Ein weiterer Höhepunkt unserer Reise nach Teheran - dabei waren Kolleg_innen, die als Dozent_innen die drei Monate Aufenthalt der iranischen Kolleg_innen in Deutschland begleitet hatten - war eine deutsch-iranische Tagung im Nationalmuseum, die zu einem intensiven Austausch und ebenso zu unvergesslichen Begegnungen mit den iranischen Kolleg_innen führten. Kontakte, die zum Teil noch bis heute über die digitale Medien Bestand haben.
ba•: Was hat sich im Programmbereich am stärksten geändert?
Andreas Grünewald: ALLES. Und das von Anfang an. Veränderung ist ein ständiges Fließen. Das ist es ja gerade, was mich interessiert und motiviert. Ich habe immer Impulse und Anstöße von außen, also aus der Praxis gesucht und gebraucht, ansonsten würde sich jede Art von Fortbildung nach kurzer Zeit im Kreise drehen und selbstreferentiell werden. Sollte das passieren, würde die Sache unerheblich und vergibt sich jede Form der Entwicklung, damit auch jeder Konsequenz für die Praxis, egal, in welcher Sparte der Kultur. Ich weiß, dass an der ba alle Programmleiter_innen genauso denken und arbeiten. Eben das hat mein Tun dort dann auch bis heute so beständig gemacht und wofür ich allen Kolleg_innen ausgesprochen dankbar bin für die lange, anregende, bewegte und bewegende Zeit in Wolfenbüttel.
ba•: Was hat sich in den Seminaren und bei den Teilnehmenden verändert?
Andreas Grünewald: Am Anfang meiner Zeit an der Akademie waren viele Seminarteilnehmende relativ praxiszentriert. Das Stichwort dafür hieß »Montagsrelevanz«, was meint: Was am Wochenende im Workshop gelernt wird, soll am darauffolgenden Montag möglichst Eins-zu-Eins umgesetzt werden können, das mit Hilfe von Checklisten, normierten Vorgaben und To-Do‘s. Wenn jemand ein Seminar besucht und damit Zeit und Geld investiert, ist das zunächst auch ein völlig legitimer Anspruch. Seit etwa 15 Jahren fällt mir allerdings auf, dass die Teilnehmenden sehr viel mehr Lust und Interesse an Experimenten mit offenem Ausgang haben, sich mehr auf diskursiven Erfahrungsaustausch einlassen und diesen auch einfordern und deutlicher nach Konzepten zur Überwindung institutionell-hierarchischer Abgrenzungen fragen und diese suchen. Diese starken Motivationen zur Veränderung und die sich daraus entwickelnde Professionalitäten sind, nach meiner Einschätzung, eine enorme Ressource, die die Museen sehr viel weiter in die Mitte der Gesellschaft rücken werden, als dass das bisher der Fall war. Diese Entwicklung stimmt mich ausgesprochen optimistisch, denn die starren Top-Down-Hierarchien werden auf diese Weise langsam aufgelöst, denn da ist etwas sehr dynamisch im Fluss. Ich freue mich deshalb immer öfter über Kolleg_innen, die als Volontär_innen oder am Beginn ihrer Museumskarriere bei uns waren, dann ihren Weg im Museum gefunden haben und ihre Haltung, Denken und Handeln in „ihr“ Museum mitgenommen und dort auch umgesetzt haben. So kann das gehen mit der Transformation – nur durch diesen offenen und experimentierfreudigen Geist und diese Empathie für die eigentlich doch (wenn man es rein logisch betrachtet) sehr merkwürdige Institution Museum.
ba•: Was haben Sie für die Zukunft vor?
Andreas Grünewald: Ich kleide mich in Beige, kaufe mir eine Weste mit vielen Taschen, patrouilliere so angetan durch Wolfenbüttels Straßen und schreibe Falschparker auf (lacht).
Nein, im Ernst: Der Ruhestand kann ja kein radikaler Abschied vom Lebensthema sein. Ich habe also vor, meine Erfahrung und mein Wissen auch weiterhin denen zur Verfügung zu stellen, die das möchten und werde Menschen und Organisationen auch gerne weiter begleiten, die mich und meine Arbeit so lange begleitet haben. Das wären zum Beispiel der Bundesverband Museumspädagogik, der Arbeitskreis Bildung und Vermittlung beim Deutschen Museumsbund, KUVERUM (Kulturvermittlung Schweiz), der Masterstudiengang Museumspädagogik/Bildung und Vermittlung im Museum der HTWK in Leipzig oder auch, in unmittelbarer Nähe, die Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel. In Zusammenarbeit mit der HTWK wächst übrigens gerade die Idee, eine Begleitung und Unterstützung für junge Kolleg_innen im Format eines Mentoring-Prinzips zu entwickeln. Wir sind da mit den Überlegungen schon recht weit und ich hoffe, demnächst Auskunft geben zu können, wie und in welcher Form die Rahmenbedingen dafür aussehen könnten.
Und natürlich gibt es noch genügend anderes zu entdecken. Deshalb folge ich jetzt meinem aktuell gültigen Lebensmotto: »Wenn dir das Universum ein Seil zuwirft, dann greif zu, klettere hoch und sieh nach, was da oben los ist«.
Sie sehen, Frau Schelling: Es bleibt weiter spannend!
Kommentare (4)
OK
at 25.01.2024GrüSt
at 06.02.2024Franziska Dürr
at 25.01.2024Wolf von Wolzogen
at 18.04.2024schon fertig?... Was soll die ba ohne Dich machen?
Deine Seminare in der Schünemann´schen Mühle und Deine Anregungen waren stets eine Bereicherung.
Für meinen Beitrag zur Bibliothek der Generationen im HMF habe ich gerade an meinen Aufzeichnungen zur Geschichte unserer "Museumspädagogischen (Privat)Gespräche weiter geschrieben, an denen ja auch Du Anteil hattest. Vielleicht finden sich ja in der "grauen Literatur" noch Hinweise?
Herzliche Grüße aus Potsdam
Wolf